Wie können Quartiere zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen? Dieser Frage widmete sich das Frühlingsseminar des Netzwerks Lebendige Quartiere, an dem über 70 Personen teilgenommen haben.
Eine nachhaltige Raumentwicklung erfordert Handeln auf globaler, nationaler und lokaler Ebene. Das Quartier als Lebensraum der EinwohnerInnen ermöglicht aufgrund seiner begrenzten Dimension eine konkrete Umsetzung der nachhaltigen Entwicklung. Einen nachhaltigen Lebensraum können wir mit mehr Fuss- und Veloverkehr, mehr Biodiversität und Energieeffizienz, weniger Ressourcenverbrauch sowie mit attraktiven Zwischenräumen für nachhaltige Lebensstile und Ernährung schaffen. Und zur erfolgreichen Quartiergestaltung braucht es viele AkteurInnen: die öffentliche Hand, Projektträger, Planende, Unternehmen und die Zivilgesellschaft. Wenn jeder seinen Teil dazu beiträgt, können die Quartiere von morgen lebendige Quartiere sein, die ihren Bewohnerinnen und Bewohnern langfristig eine erstklassige Lebensqualität bieten werden.
Anne DuPasquier, Expertin für Nachhaltige Entwicklung
Laurent Guidetti, Architekt und Raumplaner, Partner des Architektur-Büros TRIBU
Daniel Meier, TUA-INUA und Ernährungsforum Zürich
Christopher Young, Hochschule Luzern
Wohnen
Die Expertin für Nachhaltige Entwicklung Anne DuPasquier hat 2021 das Buch «habiter durable: au coeur des quartiers» veröffentlicht. Anhand von konkreten Beispielen zeigte sie in ihrem Referat, dass die Ebene des Quartiers, in dem man wohnt, sich bewegt, arbeitet und sich erholt, zentral ist für eine nachhaltige Transformation. Für DuPasquier ist das Wohnen, gerade im urbanen Gebiet, ein Schlüssel zur nachhaltigen Transformation: Der Schweizer Immobilienpark ist für 45% des Schweizer Energieverbrauchs und rund einen Drittel der inländischen CO2-Emmissionen verantwortlich. Nachhaltiges Wohnen bedeutet jedoch mehr als Minergie, dazu gehört eine gute soziale und funktionale Durchmischung und genügend Frei- und Grünraum. Gute Beispiele sind für eine nachhaltige Nutzung des öffentlichen Raums sind bspw. das Projekt Acclimatasion in Sion, das Hunzikerareal in Zürich oder der Park Superkilen in Kopenhagen. Die Zusammenarbeit der Gemeinden mit der Quartierbevölkerung in partizipativen Prozessen sieht DuPasquier dabei als zentralen Erfolgsfaktor. Eine professionelle soziokulturelle Begleitung der Prozesse ist dafür notwendig.
Im Workshop von Anne DuPasquier diskutierten die TeilnehmerInnen über die Ernährung, einen weiteren wichtigen Aspekt nachhaltiger Entwicklung im Quartier. In den vertretenen Städten sind bereits viele lokale Initiativen dazu umgesetzt worden, von Familien- und Gemeinschaftsgärten bis hin zu digitalen Plattformen zur Vernetzung. Der soziokulturellen Animation kommt dabei eine wichtige moderierende und koordinierende Rolle zu. Wenn auch wertvoll, so stellten die TeilnehmerInnen fest, dass diese ersten kleineren Schritte noch nicht den notwendigen Einfluss auf die Ernährung in den Städten hat, der eigentlich gebraucht würde, um eine nachhaltigere Landwirtschaft mit weniger Bodenverbrauch zu erreichen.
Ernährung
Die Ernährung stand auch im Mittelpunkt des Referats von Daniel Meier vom Thinkpact Zukunft. Ernährung ist nicht nur für ein Drittel der Klimagase verantwortlich, sie macht auch – durch Einkaufen, Kochen und Essen – einen wesentlichen Teil unserer Lebens- und Sozialzeit aus. Entsprechend birgt Ernährung ein zentrales Nachhaltigkeits- und gemeinschaftsbildendes Potenzial. Das gegenwärtige Ernährungssystem deckt gemäss diversen Studien auch nur etwa die Hälfte der Kosten, die es vor allem durch Gesundheits- und Umweltschäden verursacht – zu deren Deckung müssten die Preise der Nahrungsmittel im Durchschnitt rund doppelt so hoch sein. Die Klimadiskussion wird auch, so Daniel Meier, zu sehr auf CO2 reduziert, denn die Vegetation mit ihrer Verdunstung ist die Klimaanlage der Erde. Immobiliensektor (Verdichtung, Verlust an Bäumen etc.) und Ernährungssystem (grossflächige 2D-Monokulturen anstelle der 3D (agro)biodiversen Kulturen mit Hecken, Hochstämmen, Agroforsten etc.) verantworten eine starke Reduktion des Volumens und damit der Ökosystem-Leistungen der Vegetation sowie der Lebendigkeit, Fruchtbarkeit und Wasserhaltefähigkeit von Böden – was Dürren und Überschwemmungen auch ganz direkt fördert, ohne Umweg über die Klimagase. Zur Regeneration von lokalen und regionalen Wasserkreisläufen ist mehr Vegetation essenziell. Mit Schwammstadt-Massnahmen können wir die unterirdischen Wasserspeicher füllen statt Wasser in Flüsse und Seen zu „entsorgen“. Mit Vegetation, die tagsüber die Städte und Landschaften kühlt, mehr Wolken bildet – die wiederum Sonnenenergie reflektieren – kühlen wir auch direkt und effizient nicht nur urbane Hitzeinseln, sondern auch das Klima, Quadratmeter um Quadratmeter.
Im Workshop mit Daniel Meier diskutierten die TeilnehmerInnen über Lebens.Mittel.Punkte, ein Konzept das derzeit in Berlin vorbereitet wird. L.M.P. sind Nachbarschafts-Zentren für nachhaltige urbane Ernährungs- und Lebensstile. Sie sind Treffpunkte, Lern- und Austauschorte für alle Menschen, gleichzeitig wird dort konkreter und erfahrbarer Klima-, Umwelt- und Ressourcenschutz (vor-)gelebt. Dort werden mit lokalen und saisonalen Lebensmitteln Speisen zubereitet sowie Kochkurse mit und für alle Generationen angeboten. Eine Herausforderung in diesem Bereich sahen die Teilnehmer*innen darin, ein Verständnis der Potenziale und Realisierungsmöglichkeiten zu erarbeiten. Die Arbeitsgruppe sieht beim Nachhaltigkeits-Fokus auf den Quartieren inkl. Nahrungsmittelproduktion als Teil der Grün-Blauen Infrastruktur – von klassischen Stadt-Gärten über Wildfruchthecken, Spalieren, Pergolen bis zu Foraging (Pocket-)Forests – grosses Potential für zukünftige Aktivitäten. Sie hat eine Liste mit verschiedenen Elementen erstellt, die Lebensmittelpunkte für ein nachhaltige(re)s Quartier-Leben ausmachen können. Die Teilnehmer*innen gingen zudem der Frage nach, wie solche Prozesse im Quartier angestossen, erleichtert, gefördert und begleitet werden können.
Raumentwicklung und Mobilität
Laurent Guidetti ist Architekt und Raumplaner und Partner des Lausanner Architekturbüros TRIBU, das 2020 das «manifeste pour une révolution territoriale» veröffentlichte. Die Analyse von Laurent Guidetti ist klar: Wir befinden uns im Zeitalter des Antropozäns, dem Zeitalter, in dem der Mensch über die Erde bestimmt. Dabei verbrauchen zu viele Ressourcen und produzieren zu viel Abfall. Allein eine Zahl verdeutlicht die Notwendigkeit einer Verhaltensänderung in Richtung mehr Nachhaltigkeit: Wenn wir die Klimaneutralität in der Schweiz erreichen wollen, müssen die jährlichen CO2-Emmissionen pro Kopf um 96% reduziert werden. Dies ist aber mit der derzeit in unserer Gesellschaft vorherrschenden Wachstumslogik nicht vereinbar. Diese widerspiegelt sich auch in der Raumnutzung, welche dem Auto eine sehr dominante Position zugesteht. Das von Guidetti als Houston-Effekt bezeichnete Phänomen, dass das Auto einen Grossteil des Stadtraums einnimmt, kann auch in der Schweiz beobachtet werden: Im Quartier des Alpes in Pully ist 87% des Raums für das Auto reserviert. Der Umstieg auf die Elektromobilität sieht Guidetti dabei nicht als den richtigen Weg. Das Platzproblem bleibt bestehen und die ökologische Bilanz verbessert sich auch nicht deutlich. Vielmehr müssen wir neue Vorstellungen von Mobilität entwickeln, in denen das Auto nicht als Statussymbol zelebriert wird und auf den öffentlichen, den Fuss- und Veloverkehr umsteigen. Nicht zuletzt können Autos auch geteilt werden. Wenn es uns gelingt, den urbanen Raum vom Auto zu befreien, bleibt mehr Raum für Begegnung und gesellschaftliches Zusammenleben. Ein radikaler gesellschaftlicher Wandel ist dafür notwendig.
Im Workshop diskutierten die TeilnehmerInnen mit Laurent Guidetti darüber, wie bestehende Quartiere nachhaltiger gestaltet werden können. Insbesondere beim motorisierten Individualverkehr gilt es anzusetzen: Wie können das Parkplatzregime angepasst und der öffentliche sowie der Langsamverkehr aufgewertet werden? Wie kann der lokale öffentliche Raum neu gestaltet werden? Was kann an Lebensqualität gewonnen werden, wenn der motorisierte Individualverkehr eingeschränkt und reduziert wird?
Energie und Partizipation
Das Projekt «Quartierbezogene erneuerbare Energien» soll die kooperative Energieproduktion auf Quartierebene fördern und anstossen. Christopher Young, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für soziokulturelle Animation der Hochschule Luzern, hat das Projekt der HSLU am Frühlingsseminar vorgestellt. Das Ziel des Projekts liegt in der Konzipierung einer soziokulturellen Vorgehensweise, um kooperative Formen erneuerbarer Energieproduktion und -speicherung auf Quartierebene zu initialisieren und umzusetzen. Vereinfacht ausgedrückt versucht das Projektteam, HauseigentümerInnen davon zu überzeugen, auf erneuerbare Heizsysteme umzusteigen. Die Dekarbonisierung des Gebäudesektors ist zentral zur Erreichung der Klimaziele, da dieser Sektor für rund 20% der inländischen Treibhausgase verantwortlich ist. Technische Lösungen für das Heizen mit erneuerbaren Energien sind genügend vorhanden, weshalb der Wandel primär eine gesellschaftliche Herausforderung ist. Beim Pilotprojekt im Luzerner Wesmelin-Quartier werden HauseigentümerInnen informiert und unterstützt, um kooperative Wärmenetze lokal einzuführen. Nach einer sozialen, energetischen und architektonischen Quartieranalyse wurden Workshops mit der Quartierbevölkerung und EigentümerInnen durchgeführt. Die AkteurInnen analysierten gemeinsam, wo überhaupt ein Nahwärmenetz Potenzial hat. Ziel war es, die EigentümerInnen zu sensibilisieren und sie damit zu aktivieren. Im Anschluss sollen die besprochenen Lösungen in konkrete Projekte überführt werden. So konnten bereits mehrere Vorhaben im Quartier angestossen werden.
Anschliessend hatten die TeilnehmerInnen die Möglichkeit, mit Christopher Young über das Projekt zu diskutieren: Das Potential partizipativer Ansätze für Lösungen im Bereich des Heizens mit erneuerbaren Energien war unter den TeilnehmerInnen unbestritten. Sie sehen sich alle mit den Herausforderungen konfrontiert, dass alte Heizungen ersetzt werden müssen, ein Zentralwärmeverbund aber nicht möglich ist. Sie waren sich auch einig darin, dass Quartierarbeit eine zentrale Rolle spielen kann, weil sie InteressentInnen einen niederschwelligen Zugang bietet. Dabei gilt es, die Frage nach den Kompetenzen und dem Zusammenspiel mit anderen Institutionen zu klären. Die TeilnehmerInnen betonten zudem, dass gute Quartierarbeit auch darin besteht, in Eigeninitiative zu handeln und nicht abzuwarten, bis überall der Bedarf abgefragt worden ist. Schliesslich stellte sich aber auch die Frage, wie solche Projekte in sozioökonomisch benachteiligten Quartieren umgesetzt werden können, wo weniger Bewusstsein und Ressourcen vorhanden sind und andere Probleme oftmals im Vordergrund stehen.