NLQ Seminar | Netzwerk lebendige Quartiere
Dienstag, 13. Mai 2025, 13:15-16:45 Uhr
Freiwilligenarbeit im Quartier
Am 13. Mai hat im Progr Bern das NLQ-Seminar zum Thema «Unterstützung, Solidarität und Zusammenleben: Freiwilligenarbeit im Quartier» mit rund 80 Teilnehmenden stattgefunden. Das Quartier ist ein sozialer Raum, der sich gut geeignet ist, um sich gegenseitig zu unterstützen und Projekte basierend auf Freiwilligenarbeit zu entwickeln. Durch die räumliche Nähe vernetzten sich die Quartierbewohnenden einfacher, so entstehen vielfältige Projekte für die Quartiergemeinschaft. Auf diese Weise entwickeln Vereine oder Nachbarschaftsgruppen Projekte, die den Bedürfnissen des Quartiers entsprechen, sei es in den Bereichen Integration, Kinderbetreuung oder Freizeit. So entstehen im Quartier beispielsweise Nachbarschaftskitas, genossenschaftliche Läden, Sportvereine, Gemeinschaftsgärten oder generationenübergreifende Hilfsaktionen.
In den letzten Jahren ist die Anzahl Menschen, welche Freiwilligenarbeit leisten, gerade in langfristigen Projekten, zurückgegangen. Dies hat zur Folge, dass einige dieser Projekte und Vereine verschwinden. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der Zusammenarbeit zwischen den Freiwilligen und den Fachpersonen der Quartierarbeit, da Unterstützung durch diese Quartierarbeiter:innen eine Gelegenheit sein könnte, ehrenamtliche Aktionen zu sichern und sogar zu fördern.
Deswegen hat sich das diesjährige NLQ-Seminar zum Ziel genommen, das freiwillige Engagement im Quartier zu diskutieren. Die Diskussion hat sich um folgende Fragen gedreht: Welche Chancen bietet das freiwillige Engagement für die Quartiere? Wie können Freiwillige, gemeinnützige Organisationen und Fachpersonen in Projekten am besten zusammenarbeiten und sich am Quartierleben beteiligen? Welche Unterstützung benötigen Projekte, welche auf freiwilliger Arbeit beruhen, um sich weiterzuentwickeln und dauerhaft zu bestehen? Welche Verantwortung tragen die Städte bei der Förderung von Freiwilligenarbeit? Welche Auswirkungen haben die Veränderungen im freiwilligen Engagement auf das Quartier?
Das Programm hat sich aus zwei Einführungsreferaten zusammengestellt, die wir im folgenden präsentieren. Die Präsentation zu den Referaten ist hier abgelegt.
Sigrid Haunberger: Gemeinsam fürs Quartier: Freiwilligenarbeit und gelebte Solidarität
Sigrid Haunberger forscht zur Alternden Gesellschaft, Freiwilligenarbeit und Freiwilligenmanagement an der Berner Fachhochschule und ist selbst freiwillig aktiv. In ihrem einführenden Referat hält sie als erstes fest, dass das Schweizer Gemeinwesen von und mit Freiwilligen lebt. Das Freiwilligenmanagement in der Schweiz ist auch entsprechend professionell aufgestellt.
Freiwilligenarbeit gilt es zu unterscheiden von Care-Arbeit, welche für und durch Angehörige geleistet wird. Weiter gilt es, formelles von informellem Engagement zu unterscheiden. Formelles Engagement ist institutionell organisiert, beispielsweise durch Vereine. Informelles Engagement findet in persönlichen Beziehungen statt, beispielsweise beim Einkaufen für Nachbarn oder wenn das Blumengiessen für Freund:innen übernommen wird. Formelles Engagement wird organisiert, meist eben durch Verbands- und Vereinsstrukturen. Freiwilligenarbeit ist auch, wie bereits der Name besagt, freiwillig oder zwanglos geleistete Arbeit. Die Formen der Freiwilligenarbeit sind sehr divers, Engagement im Sportverein, Computerkurse, Reperaturservice.
Viele Freiwillige sind Pensionierte, meist mit guter Ressourcenausstattung. Diese verfügen über Zeit und finanzielle Ressourcen, in diesem Sinn auch über gewisse Privilegien. Nicht alle Menschen, die sich freiwillig engagieren möchten, verfügen über diese Ressourcen, weswegen sich die Frage stellt, ob eine staatliche Förderung von Freiwilligenarbeit in Betracht gezogen werden sollte und so Freiwilligenarbeit weniger zu einer Beschäftigung für Privilegierte machen könnte. Dies würde allerdings nur die formell organisierte Freiwilligenarbeit betreffen. Anzunehmen ist, dass die Anzahl Menschen die sich informell engagieren und über weniger Ressourcen verfügen, höher ist, als im formellen Engagement. Dieses informelle Engagement ist schwerer zu erheben und deswegen unsichtbar(er).
Während, wie eingangs erwähnt, ist das formelle Engagement in der Schweiz hoch, fehlen aber gleichzeitig Freiwillige. Dies bedeutet, dass das Matching zwischen den Freiwilligen und den Organisationen nicht richtig funktioniert. Sigrid Haunberg präsentiert hierzu drei mögliche Erklärungen: eine Unübersichtlichkeit der Angebote, zu hohe zeitliche Ansprüche an die Freiwilligen und auch dass die Freiwilligen nicht zum richtigen Zeitpunkt persönlich auf ein Engagement angesprochen werden.
Weiter teilt Haunberger Ideen, wie das Engagement von Freiwilligen lokal im Quartier gefördert werden kann. Durch eine Steigerung der Sichtbarkeit und der Anerkennung der Freiwilligenarbeit, wird diese für die sich engagierenden Personen attraktiver. Weiter ist es zielführend, dass sich Organisationen, die sich auf ein gleiches Gebiet konzentrieren untereinander absprechen, um Doppelspurigkeiten in der Rekrutierung der Freiwilligen zu verhindern. Weiter sollen die Organisationen, welche mit Freiwilligen arbeiten, über soziale Ungleichheiten nachdenken und diese durch Kompensationen oder Spesenabrechnungen etwas ausgeglichen werden können.
Mitgeben möchte Sigrid Haunberger insbesondere die Rolle von sozialen Ungleichheiten in der Freiwilligenarbeit. Sie plädiert dafür, dass Organisationen, welche Freiwilligen engagieren, einen Perspektivwechsel vorzunehmen: was wollen die Freiwilligen? Was will das Quartier? Und wie können diese Bedürfnisse/Wünsche mit den Aufgaben der Organisation verbunden werden können.
Agnès Aubry: Freiwilligenarbeit von geflüchteten Menschen: zwischen Integrationsmöglichkeit und Ausbeutungsrisiko
Agnès Aubry ist Politikwissenschaftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HES-SO Valais-Wallis und Dozentin an der Universität Lausanne UNIL. Die Präsentation von Agnès Aubry befasst sich mit Menschen, die in der Schweiz im Exil sind, also Personen, die sowohl einen Migrationshintergrund haben als auch in der Schweiz in prekären Situationen leben. Dies ist oft der Fall, da ihr rechtlicher Status die Möglichkeiten, sich dauerhaft in der Schweiz niederzulassen, einschränkt. Die meisten Exilant:innen haben kein Recht auf eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt und damit auch keinen Zugang zu den Sozialversicherungen. Diese Bedingungen schränken ihre Möglichkeiten, eine Beschäftigung zu finden, erheblich ein.
Es besteht für Exilant:innen die Möglichkeit, Freiwilligenarbeit zu errichten. Meistens findet das Engagement in Organisationen statt, die sich für Menschen im Exil engagieren und Dienstleistungen anbieten, von denen diese Menschen profitiert haben oder noch profitieren. Durch die Freiwilligenarbeit ändert sich somit der Status der Exilant:innen: diese werden von Beziehenden der Leistungen der Vereine zu Dienstleistenden.
Aufgrund des besonderen legalen Status der Exilant:innen, sind auch die Umstände für die Ausübung von Freiwilligenarbeit besonders. Während die Freiwilligenarbeit oft als „Arbeit, die man immer wählt“ beschrieben wird, muss dies in diesem speziellen Fall differenziert werden. Zwar wählen sich die Exilant:innen die Ausübung der freiwilligen Tätigkeit – allerdings haben diese Personen keinen Zugang zum Arbeitsmarkt. Dieser ungleiche Zugang zum Arbeitsmarkt prägt das freiwillige Engagement, das somit eher einen Ersatz für eine Beschäftigung darstellt, als ein (zusätzliches) freiwilliges Engagement. Darüber hinaus sind Menschen im Exil nicht nur mit einem eingeschränkten Arbeitsrecht konfrontiert, sondern auch mit verschiedenen anderen Formen der Diskriminierung (administrative, rassistische, oder Nichtanerkennung von Ausbildungen oder akademischen Diplomen).
Vereine, die Personen im Exil freiwillig anstellen, stehen somit vor Herausforderungen. Häufig sind diese Organisationen aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen auf die Freiwilligenarbeit der Personen die von ihren Leistungen profitieren angewiesen – ohne unbezahlte Arbeit schaffen es die Organisationen nicht, die notwendige Arbeit zu leisten. Auf der anderen Seite sehen die Organisationen die Freiwilligenarbeit auch als Hebel für die Integration der Personen im Exil. Durch Bescheinigungen, die von den Vereinen ausgestellt werden, können die Exilant:innen ihren „guten Willen“, ihre „persönliche Verantwortung“ oder auch ihre „ziviles Engagement“ unter Beweis stellen. Auf diese Weise können diese Bescheinigungen dazu beitragen, die Situation dieser Personen zu stabilisieren, indem sie bei der Verlängerung von Aufenthaltsgenehmigungen oder bei der Arbeitssuche helfen. Die Beschränkung auf Freiwilligenarbeit trägt jedoch zur Prekarisierung der Situation von Personen im Exil bei, da diese weder finanziell kompensiert wird, noch einen Beitrag zu den Sozialversicherungen leistet, während sie dennoch deren Arbeitskraft nutzt.
Die Präsentation von Agnès Aubry illustriert die Präsentation von Sigrid Haunberger mit einem konkreten Beispiel. Sigrid Haunberger hat in ihrer Präsentation die Berücksichtigung von Ungleichheiten, die beim Zugang zur Freiwilligenarbeit eine wichtige Rolle spielen hervorgehoben. Während einige Menschen sich freiwillig engagieren möchten, aber aufgrund fehlender Ressourcen keinen Zugang dazu haben, sind andere, wie eben im Beispiel der Präsentation von Agnès Aubry, auf die Freiwilligenarbeit beschränkt, da ihnen der Arbeitsmarkt unzugänglich ist. Diese Ungleichheiten müssen bei der Rekrutierung von freiwillig Engagierten berücksichtigt werden. Der Beitrag und der Zugang zu den Sozialversicherungen scheinen uns ein potenziell interessanter und zu untersuchender Denkansatz zu sein. Dies, da Freiwilligenarbeit immer noch Arbeit ist, auch wenn sie (mehr oder weniger) freiwillig ausgeübt wird. Eine Anerkennung dieser Arbeit muss nicht unbedingt monetär sein, sondern muss die Bedingungen für den Zugang zur Freiwilligenarbeit berücksichtigen und wie diese Bedingungen (gerechter) gestaltet werden können.
Nach der Pause finden verschiedene Ateliers statt, bei denen Projekte vorgestellt werden und zu Herausforderungen in den Projekten, aber auch allgemein, ausgetauscht wird. Die Präsentationen zu den Ateliers sind jeweils zu Beginn verlinkt, weitere Links zu den Projekten sind im Beschrieb enthalten.
- Atelier 1 : Démarche « Actions communautaires » : des seniors engagés pour leur commune. Le cas de Bourg-en-Lavaux (VD) mit
Gabriel Noble, chargé de projet communautaire
Francesco Casabianca, responsable Actions communautaires - Atelier 2 : Chances et défis de l’engagement bénévole dans le cadre d’une maison de quartier mit Anna Mele, responsable InfoQuartier Mâche. Ville de Bienne / Stadt Biel. Générations & Quartiers : Concevoir ensemble la vie du quartier – Ville de Bienne
- Atelier 3: Nachbarschaftshilfe – miteinander füreinander da sein (deutsch) mit
Kathrin Winzeler, Geschäftsführerin Nachbarschaft Zürich, und Natscha Ertan, Nachbarschaftshilfe Hottingen-Hirslanden - Atelier 4: Freiwilligenarbeit in etablierten Projekten, Beispiel HEKS Neue Gärten Bern mit Anina Kläy, Projektleiterin HEKS Neue Gärten Bern
- Atelier 5: Wohnlichere Aussenräume mit Freiwilligenarbeit für gelebte Nachbarschaft gestalten mit Dr. Petra Hagen Hodgson, Kunsthistorikerin, Dozentin Stadtentwicklung und Gartengeschichte an der ZHAW, Projektleiterin Modellvorhaben Hohenrainli Kloten des Bundes
- Atelier 6: «Freiwilligenarbeit in der Quartierentwicklung (im Quartier Fluhmühle-Lindenstrasse, Luzern) – Chancen, Grenzen und Herausforderungen» mit Regula Rescalli, Leiterin Quartierarbeit und -entwicklung Stadt Luzern